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Bild: Wendy Corniquet, pixabay.com

«Spione, Zauberer, Ketzer, Ungläubige, Diebe …»

16. April 2019

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden nicht nur Millionen Juden ermordet, sondern auch eine grosse Zahl Roma. Die Kirchen begannen bald nach dem Krieg, ihre Schuld und ihre Vorurteile gegenüber den jüdischen Menschen aufzuarbeiten. Gegenüber den Roma geschah und geschieht das nur sehr zögerlich. Ein theologisches Interesse scheint kaum vorhanden.

Die SS-Männer, die am 16. Mai 1944 den Befehl hatten, das «Zigeunerlager» des Vernichtungslagers Auschitz-Birkenau zu «liquidieren» und die dort noch befindlichen Roma zur Ermordung in die Gaskammern zu transportieren, konnten diesen Auftrag nicht ausführen. Die Insassen wussten, was ihnen bevorstand. Sie hatten sich aus einfachsten Mitteln Waffen gebaut und waren bereit, sich zu verteidigen. An diesem Tag zogen darum die SS-Schergen unverrichteter Dinge wieder ab.

«Artfremdes Blut»

Wie die Juden waren die «Zigeuner» durch die Nürnberger Gesetze 1936 als «Artfremde» gebrandmarkt worden. «Artfremden Blutes sind in Europa regelmässig nur Juden und Zigeuner», heisst es in einem Kommentar zu den Gesetzen. Zwischen 200000 und 500000 Roma wurden während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft ermordet. Viele Überlebende hatten sich einer Zwangssterilisation unterziehen müssen. Vor der NS-Zeit hatten sie sich selbst als Deutsche gesehen und als Arbeiter, Handwerker, Kleinunternehmer, als «normale» Frauen, Männer, Kinder in Deutschland und anderen Ländern Europas gelebt.

Falschinformationen

Die Frühgeschichte der Roma liegt weitgehend im Dunkeln. Linguistische Studien legen nahe, dass die Bevölkerungsgruppe ursprünglich aus Indien kam. Im 13. und 14. Jahrhundert wanderten sie nach Europa auf der Flucht vor Hunger, Verfolgung oder aus wirtschaftlichen Gründen. Die ihnen dort begegnenden Vorbehalte wurden verschärft, als 1498 durch den Freiburger Reichstag das Gerücht verbreitet wurde, sie seien «Spione» der feindlichen Türken, die das christliche Abendland auskundschaften sollten. Immer mehr Mythen verdüsterten das Bild von den «Zigeunern»: Sie seien Ungläubige, Ketzer, huldigten der Zauberei und der schwarzen Magie, seien arbeitsscheu und unsittlich… Die Aufklärung entwickelte Konzepte zur «Umerziehung». Im ausgehenden 19. Jahrhundert setzte sich im deutschsprachigen Raum eine «völkisch» geprägte Vorstellung von «Nation» auch in den Kirchen durch, so dass seit 1870 in den so verstandenen National-Kirchen immer weniger Platz für Roma war.

Die Kirche schweigt

Rund 90% der in Deutschland bei Beginn der NS-Herrschaft lebenden Roma waren katholisch. Als die Verfolgung und Deportation der Roma einsetzte, wandten sich diese und einzelne kirchliche Würdenträger an Bischöfe und Erzbischöfe, damit diese ihnen zur Seite stehen. Die Kirche schwieg. Auch in der evangelischen «Bekennenden Kirche», in der der Antisemitismus kritisiert wurde, schwieg man zum Unrecht gegen die Roma. Die Kirchen waren eher allermeist willige Helfer des Regimes: Nur aufgrund der Kirchenbücher war es überhaupt möglich, viele der «Zigeuner» zu finden. Denn für die Zeit vor 1875 waren sie nur in diesen Dokumenten als solche registriert. Die Kirchen stellten ihre Unterlagen den Behörden zur Verfügung.
Im Schuldbekenntnis der katholischen Bischöfe und in der Stuttgarter Schulderklärung des Rates der Evangelischen Kirche von 1945 kommen die Roma nicht vor. Staatlich blieben sie von jeder Form von Wiedergutmachung ausgeschlossen. Erst in den 1980er Jahren setzte in den Kirchen zögerlich ein Umdenken ein. Grosse Ernsthaftigkeit gab es nur punktuell. Vielleicht auch, weil die theologischen Herausforderungen weniger klar auf der Hand liegen.

Vorurteile wirksam

Heute sind die Roma die grösste ethnische Minderheitengruppen in Europa – und vielerorts zugleich jene Gruppe, die noch immer am stärksten diskriminiert wird. Die Vorurteile gegen sie sind wirksam geblieben, die ihnen zum Beispiel eine Neigung zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, nachsagen. Als die Popsängerin Madonna 2009 bei einem Konzert in Rumänien die Diskriminierung der Roma anprangerte, erntete sie Buhrufe.

Widerstand bis zuletzt

Mit ihrer mutigen Aktion am 16. Mai 1944 konnten die Roma im Vernichtungslager die Ermordung nicht endgültig abwenden. In den folgenden Tagen sortierten die SS-Leute die kräftigeren Personen zur «Vernichtung durch Arbeit» aus und transportierten sie in andere Lager. Rund 2900 Personen blieben zurück, oft Alte, Frauen und Kinder. Sie wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern in Auschwitz ermordet. Augenzeugen berichten, dass viele von ihnen noch einmal erbitterten Widerstand leisteten. Erfolglos.


Bezeichnungen

Als «Roma» wird diese Volksgruppe heute in Europa üblicherweise bezeichnet. In Deutschland spricht man meist von «Sinti und Roma». Demgegenüber ist das – in seiner Herleitung unsichere – Wort «Zigeuner» eine Fremdbezeichnung, die mit negativen Vorstellungen verbunden ist und von den Roma oft abgelehnt wird. Die Abneigung oder Feindschaft gegenüber den unterschiedlichen Gruppen von Roma wird in der wissenschaftlichen Forschung als «Antiziganismus» bezeichnet.


Methodist/innen arbeiten mit Roma

Bild: Üllas Tankler

Bild: Üllas Tankler

In Ungarn, Serbien, Makedonien, Bulgarien, Rumänien und der Slowakei gibt es EMK-Gemeinden, die überwiegend oder ausschliesslich aus Roma bestehen. Auch in anderen Ländern Europas – zum Beispiel in Schweden oder in Russland – ist das Unterwegssein mit Roma gelebte Realität. Mit einem vielseitigen Engagement versucht die EMK, auch sozialen Nöten wirksam zu begegnen. Es gibt Aktivitäten, die dem Bereich der «Nothilfe» zugeordnet werden können. Stärker im Fokus ist aber die Hilfe zur Selbsthilfe: schulische Bildung, Persönlichkeitsentwicklung, Unterstützung im Blick auf die Arbeitssuche, die Voraussetzungen für die partielle Selbstversorgung schaffen, soziale Integration usw. Durch diese Hilfe wird Armut verringert, und immer wieder gelingt es – auch dank Ihrer Hilfe – neue und hoffnungsvolle Perspektiven zu eröffnen.

Sigmar Friedrich

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