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Briefumschlag

Die Perspektive der Opfer unseres Wirtschaftssystems einnehmen

17. Mai 2019

Zu Kirche und Welt 5.2019

Ich habe die Leserbriefe von Stefan Weller und Max Stahel sehr geschätzt. Und ja, ich bin 100% einverstanden, dass beides wichtig ist: verantwortliches Geben und verantwortliches Verdienen. Aber: ist beides gleich wichtig? Bei dieser Frage sollten wir immer die Perspektive der Opfer unseres Wirtschaftssystems einnehmen. Was macht für sie den grösseren Unterschied? Was ist für sie das grössere Hindernis zu einem würdevollen Leben: aktive Ausbeutung (unsauberes Verdienen) oder unterlassene Hilfeleistung (fehlendes Geben)?

Wenn wir unser Geld sauber verdienen – z.B. nicht in Waffenfirmen investieren –, so macht das für die Opfer kaum einen Unterschied. Wenn wir nicht in Waffenfirmen investieren, dann tun es andere. Es gibt nirgendswo ein Kind, das deswegen ohne Angst ins Bett geht. Das heisst natürlich nicht, dass wir in Waffenfirmen investieren sollten. Aber es heisst doch, dass unsere hauptsächliche Aufmerksamkeit und Leidenschaft anderswo liegen soll. Die Priorität soll bei Lösungen liegen, die für die Opfer einen realen Unterschied machen. Und im Gegensatz zum Verdienen haben wir beim Geben tatsächlich einen Hebel in der Hand. Wenn wir unser Geld nicht verwenden, um einen typischen Schweizer Lebensstandard zu pflegen, sondern es an maximal wirksame Entwicklungsprojekte weiterreichen, so schenkt das tatsächlich ein. Dann gibt es Kinder, die deswegen ohne Angst ins Bett gehen.

Hinzu kommt noch: ist es überhaupt möglich, Geld sauber zu verdienen? Klar, wir können natürlich schon vermeiden, mit eigenen Händen direkt auszubeuten. Aber indirekt sind wir immer ins ungerechte System verwoben. Auch deshalb meine Betonung darauf, unser Geld (sowohl “sauber” wie auch “unsauber” verdientes Geld) an die Opfer umzukanalisieren statt sich oberflächlich von Ausbeutung fernzuhalten.

Der genau gleiche Grundgedanken – was würden die Opfer wollen? – liegt hinter den Bemerkungen zur Freiwilligenarbeit. Freiwilligenarbeit finde ich grossartig (und mache es selber auch). Aber: für jede Stunde unbezahlter Freiwilligenarbeit könnten wir alternativ Geld verdienen-und-spenden. Insbesondere als Schweizer*innen können wir damit enorme Ressourcen zu den Menschen in Armut verschieben (vgl. auch Eph. 4,28b). Wenn den Menschen in Armut dieses Geld sonst fehlt, so ist das doch eigentlich auch fast eine Form der “Freiwilligenarbeit”?

Dominik Roser

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