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Der Philosoph mit dem Hammer – wurde heute vor 175 Jahren geboren

15. Oktober 2019

Ein Beitrag zu Friedrich Nietzsche auf der Webseite der Methodist/innen? Ausgerechnet Nietzsche? Nur weil er vor 175 Jahren das Licht der Welt erblickt hat? Nietzsche ist doch der Philosoph, der so wild gegen das Christentum gewütet hat, der – wie manche sagen – Gott getötet habe.

Zugegeben, gehörige Zurückhaltung ist angebracht: Denn wer sich umstandslos auf eine Lektüre dieses Denkers einlässt, der laut eigener Aussage mit dem Hammer philosophiert, der könnte sich ungewollt im Rausch des Lesens verlieren. Denn unbestritten war Nietzsche ein glänzender Stilist. Seine zahlreichen Werke sind sorgfältig durchgearbeitet. Sie quellen über von pointierten Bemerkungen und feinsinnigen Beobachtungen. Aber eines sind sie ganz gewiss nicht: Ein systematisch ausgefeiltes Denkgebäude, das eine klar fassbare Lehre vermitteln wollte. Ganz im Gegenteil: Zu allem, was man mit Nietzsches eigenen Worten als seine Gedanken und seine feste Lehre anführen wollte, lassen sich in seinen Schriften, Briefen oder den nachgelassenen Notizen zahllose Zitate finden, die das glatte Gegenteil besagen.

Nietzsche erlitt den Atheismus

Das gilt insbesondere auch für all das durchaus Verächtliche, das Nietzsche zum Christentum gesagt hat. Es gilt sogar für die so oft zitierte Aussage «Gott ist tot». Denn dieser Aussage steht zumindest ein feinfühliges Verständnis und eine erstaunliche Hochschätzung der Figur Jesus gegenüber. Die scharfe Religionskritik Nietzsches, von seinen Mitschülern einst «der kleine Pastor» genannt, bezieht sich auf die Kirche und das Christentum und was die von Anfang an aus Jesus gemacht haben. Nietzsche war er ein Gottsucher, der den Atheismus erlitten und nicht selbst vorangetrieben hat. Das unterscheidet ihn von heute populären Atheisten, die für ihre vermeintlich wissenschaftliche Gottesleugnung keinerlei persönliches Wagnis eingehen, keine existenziellen Kosten haben und ihren Atheismus damit zu einer billigen Sache machen. Karl Jaspers hält Nietzsche für einen Gegner des Christentums aus christlichen Gründen. Und genau deshalb hat er einer aufmerksamen Theologie und einer weltoffenen Kirche etwas zu sagen und ist seine sorgfältige Lektüre für Christ/innen anregend.

Ein Sinnbild für Distanz und Nähe Nietzsches zu Kirche und Theologie ist sein Begräbnis im Schatten der Mauer einer sächsischen Dorfkirche neben dem Grab seines Vaters, eines evangelischen Dorfpfarrers, unter dem Geläut der Glocken – aber eben ohne die Teilnahme des zuständigen Pfarrers, der sich entschuldigen liess.

Prophetische Deutungen

Damit ist die Vieldeutigkeit, ja die Uneindeutigkeit dessen angesprochen, was bei Nietzsche zu lesen ist. Mindestens genauso wichtig für das Verständnis Nietzsches ist es, seine Texte nicht so sehr als Setzung von Werten, als eine Aufforderung für deren Verwirklichung oder gar als Beschreibung eines Idealzustandes zu lesen. Nein, viel eher als das sind sie prophetische Deutungen der eigenen Zeit und der Zukunft. Wie kein anderer diagnostiziert Nietzsche den Traditionsbruch seiner Zeit und bedenkt dessen Konsequenzen: Er ist die philosophische Schlüsselfigur für das Verständnis der Moderne. Der Satz «Gott ist tot» (um diese eigentlich unaussprechliche Aussage zu wiederholen) drückt also nicht einen Wunsch oder eine Forderung Nietzsches aus. Nein, Nietzsche sieht, dass sich unsere Welt dahin entwickelt hat oder dahin entwickeln wird, dass dieser Satz seine ganz alltägliche Wirksamkeit entfaltet. Den aus dem «Tod Gottes» folgenden Verlust der obersten Werte und den aufkommenden Nihilismus versucht der Philosoph denkerisch zu bewältigen, ohne dabei auf eine in seinen Augen ja gescheiterte Philosophie zurückgreifen zu können. (s. diesen Originaltext)

Bleibend heraufordernd

Abschliessend möchte ich einen bekannten kritischen Satz Nietzsches zitieren, den ich für eine wirkliche Herausforderung des evangelischen Glaubens halte: «Erlöster müssten mir seine Jünger aussehen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne!» Kennen Sie auch protestantische Gläubige, die zutiefst von der rechtfertigenden und erlösenden Gnade Gottes überzeugt sein wollen und dennoch – mindestens zwischen den Zeilen – pausenlos von sich selbst und ihren Taten reden? Oder die in jedem Gespräch deutlich machen, dass sie an irgendetwas nicht schuld sind (obwohl die Kategorie der Schuld gar nicht angesprochen war)? Oder die – ein anders gelagerter Fall – nach menschlichen Gesichtspunkten so erfolgreich sind, dass sie einer erlösenden Rechtfertigung gar nicht bedürfen? Dies ist ein schlichtes Beispiel, wie eine kleine Beobachtung Nietzsches ernsteste theologische Überlegungen befördern kann.

Christof Voigt, Reutlingen (D)
Beitragbild: RTG, Friedrich Hartmann via wikimedia.org

Der Beitrag erschien ursprünglich leicht gekürzt in «Kirche und Welt» 10/2019

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Lebensdaten und Werke von Friedrich Nietzsche

 

Literaturhinweis

Eugen Biser: Nietzsche für Christen. Eine Herausforderung, Freiburg im Breisgau 1995

 

Zur Person

Professor Christof Voigt von der Theologischen Hochschule Reutlingen (Bild: zVg, Klaus Ulrich Ruof)

Christof Voigt ist Professor für Philosophie und biblische Sprachen an der Theologischen Hochschule Reutlingen