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Gleise beim Vernichtungslager Birkenau

Christlicher Antisemitismus als Wurzel des Holocaust

21. April 2020

In Israel wird heute der «Jom haScho’a» begangen. An diesem Gedenktag wird an das Grauen des Holocaust erinnert. «Kirche und Welt», die Kirchenzeitung der Methodist/innen in der Schweiz, nahm in der aktuellen Ausgabe das Thema ebenfalls auf – und fragte nach dem Anteil der christlichen Glaubenstradition an diesem Geschehen.

Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden in von den Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus eingerichteten Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet. Die Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus hatte unterschiedliche Voraussetzungen und Ursachen. Ein wesentlicher Anteil daran ist in einer antisemitischen christlichen Tradition zu suchen, unter der biblische Texte ausgelegt und gewichtet wurden. Erst die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden führte dazu, dass die meisten Kirchen eine 1900 Jahre alte Auslegungstradition der biblischen Texte als falsch einschätzten. Ein Lernweg begann.

Einen grundlegenden Vorwurf meinte man schon früh aus Mt 27,25 ableiten zu können: «Die Juden» seien Schuld am Tod Jesu. Sie seien «Gottesmörder». Die Zerstörung Jerusalems, die Vertreibung aus dem Land Israel, ihr «Zerstreuung» unter die Völker und ihr Leiden dort, all das seien Zeichen des Gotteszornes angesichts dieser Schuld.

Entgegensetzungen

Andere Bibelstellen wurden hinzugezogen, die zu beweisen schienen, dass «die Juden» weder Gott erkennen noch die Bibel verstehen könnten, da sie «verstockt» seien. Überhaupt stellte man dem «zornigen» Gott der «Vergeltung» des «Alten Testaments» den «gnädigen» Gott der «Liebe» des «Neuen Testaments» entgegen.

Das bessere Gottesvolk

Das Verhältnis von Judentum und Christentum wurde (und wird manchmal bis heute!) in verschiedenen Varianten so gedeutet, dass das «neue Gottesvolk» das «alte Gottesvolk» ersetze, überbiete, verdränge, beerbe… Die grundlegende Logik hierin war (und ist), dass im jüdischen Glauben ein Defizit vorhanden sei, das erst und nur durch den christlichen Glauben überwunden werden könne. Dieses Denken steht auch hinter verschiedenen, teils heilsgeschichtlich erweiterten Formen von «Integration»: Die Kirche ist das (einzige) Gottesvolk, zu dem aber die Judenchrist/innen (schon jetzt) dazu gehören (und am Ende wird sich ganz Israel bekehren).

Neue Ansätze

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchen die Kirchen, das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum in einer neuen Weise so zu beschreiben, dass das Volk Israel bleibend und (schon) gegenwärtig eine eigenständige Bedeutung (auch) für die Kirche hat. Judentum und Kirche haben einen je eigenen Bezug und Zugang zu demselben Gott und eine je spezifische Zeugenrolle in dieser Welt. Jüdinnen und Juden sind massgebende Ausleger/innen der Hebräischen Bibel – des christlichen «Alten Testaments – auf für Christ/innen.

S.F. (Der Beitrag erschien zuerst in der Aprilausgabe von «Kirche und Welt».)
Beitragsbild: RonPorter, pixabay.com

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