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Fake News verdrehen Fakten

«Wahrheit» zwischen «Fake News» und «Cancel Culture»

26. September 2020

«Was ist Wahrheit?», fragt Pilatus Jesus in Joh 18,38. – «Wahrheit ist das, was man daraus macht», würde vielleicht eine mögliche Antwort heute heissen. Entsprechend hat jede/r so seine eigene(n) Wahrheit(en) – und findet sich mit denen zusammen, die (in bestimmten Fragen) ähnlicher Meinung sind. Eine (kleine) Auslegeordnung.

Ende August hat Kellyanne Conway das Weisse Haus verlassen. SRF nannte sie «Trumps loyalste Beraterin». Bekannt wurde sie unter anderem dafür, dass sie Aussagen des Präsidenten zu den Menschenmassen, die seiner Einsetzung beiwohnten, als «alternative Fakten» bezeichnete. Ähnliche Zahlendreher hatten Anfang August die Veranstalter der «Querdenker-Demo» in Berlin vorgenommen. Diese «alternativen Fakten» liessen sich leicht als glatte Lügen entlarven.

Der Effekt zählt

Die der eigenen Weltsicht angepassten Behauptungen, deren Vertreter/innen sich oft nicht einmal mehr die Mühe geben, auch nur den Anschein von Faktizität zu erwecken, scheinen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Manche sprechen von einem «postfaktischen Zeitalter» oder – eine Nummer kleiner – von «postfaktischer Politik». «Die Wahrheit einer Aussage tritt dabei hinter den emotionalen Effekt der Aussage vor allem auf die eigene Interessengruppe zurück», erläutert der entsprechende Artikel in der Wikipedia.

Die Sicht der Minderheiten

Doch ist das nur die eine Seite der Medaille. Auch anderen Orts wird die Sicht einzelner Personenkreise mit besonderem Gewicht versehen – und das hat Folgen.

Seit längerem werden in politischen und gesellschaftlichen Diskursen jene Gruppen besonders in den Fokus gerückt, die in der Mehrheitsgesellschaft durch Klasse, Herkunft, Geschlecht oder sexuelle Orientierung an den Rand gedrängt sind. Diese Minderheiten formulieren ihre Erfahrungen von Diskriminierung – und protestieren dagegen. Sie weisen die, meist negativen, Fremdzuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft ab und formulieren dagegen eine positive Selbstbeschreibung. Diese sei als die eigentlich gültige zu respektieren.

Abweichler abstrafen

Im politischen und gesellschaftlichen Diskurs wird problematisiert, was Minderheiten «diskriminiert». Wer sprachlich, inhaltlich, sachlich nicht strikt dieser Linie folgt, wird immer häufiger an den Pranger gestellt, abgeurteilt, im besten Fall nur «ausgeladen», ansonsten ausgebuht – oder sie oder er verliert sogar den Job. Unternehmen werden boykottiert und mit «Shitstorms» eingedeckt:

Im Oktober 2019 etwa verunmöglichen Student/innen in Hamburg, dass der AfD-Mitbegründer Bernd Lucke eine Vorlesung über Makroökonomik hält. Eben darum, weil er AfD-Mitbegründer war. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft löscht nach heftiger Kritik einen – von ihr selbst angefragten – Beitrag von Dieter Nuhr von ihrer Website. Mitarbeiter der New York Times verlassen die «liberale» Zeitung, weil sie von Kolleg/innen als «Rassisten» beschimpft wurden.

Die Stichworte, unter denen solche Phänomene behandelt werden, heissen «Identitätspolitik», «political correctness» oder «Cancel Culture». «Moral» und «Identität» sind wichtiger als Argumente oder geschichtliche, gesellschaftliche und soziale Kontexte. Wer etwas sagt, wird zum entscheidenden Kriterium dafür, ob das, was diese Person sagt, wahr und zutreffend sein kann, oder ob die Person überhaupt zu bestimmten Themen etwas sagen «darf».

Faktenchecks und ihre Grenzen

Verlockend einfach schiene es, dagegen einfach zu betonen: «Haltet euch doch schlicht an die Fakten!» Diese definiert die Internetseite Mimikama, die eine Fülle guter Faktenchecks bietet, so: «Fakten sind nachweisbare Tatsachen, welche von mehreren Quellen unabhängig voneinander bestätigt werden können und nachvollziehbar sind.»

Das kann helfen, wenn die Coronaproteste in Berlin angeblich über eine Million Teilnehmer/innen gehabt haben sollen. Etwas schwieriger wird das schon bei der Frage, wie gefährlich das «neuartige Coronavirus» tatsächlich ist. Dazu braucht es die Fähigkeit, Statistiken zu lesen, medizinische Befunde zu verstehen, mit sich änderndem Wissensstand in der Erforschung klar zu kommen und zu verstehen, dass die Bandbreite der Diskussion die grundsätzlichen Ergebnisse nicht als falsch erweist…

Noch ein wenig schwieriger wird es, wenn es um die Frage geht, ob das Geschlecht von Menschen nur das Produkt einer sozialen und kulturellen Konstruktion ist. Und dann noch: Gott. Würde der Glaube an ihn einem solchen Faktencheck standhalten? Oder ist ein Faktencheck schlicht ein falsches Instrument, um die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses vom Da-Sein Gottes zu erfassen?

Wahrheit?

Fakten werden in unserer Gesellschaft zu einem grossen Teil wissenschaftlich, also nach bestimmten, nachvollziehbaren Regeln erhoben und beschrieben und dann interpretiert. Ganz so unhinterfragbar eindeutig, wie das klingt, ist das allerdings nicht. Unter der Vielzahl möglicher Fakten kann jede Untersuchung nur einen (grossen) Teil erheben. Manches bleibt unberücksichtigt. In der Beschreibung und Deutung bleibt immer auch ein gewisser Spielraum. Eine letzte, unhinterfragbare Sicherheit – die eine und einzige Wahrheit – gibt es nicht. Wo sie behauptet wurde und wird, gab und gibt es immer totalitäre Tendenzen. Auch die Geschichte der Kirche bietet zahlreiche Beispiele dafür.

Vertrauen?

Die Tendenzen von Fake News und Cancel Culture sind problematisch und verstörend. Über die Grenze der eigenen Wahr-Nehmung hinaus sind Gespräche und Gemeinschaft kaum möglich. Denn im Hintergrund taucht eine Grundfrage auf: In einer stark ausdifferenzierten Gesellschaft geht es in allem auch um die Frage des Vertrauens: Ganz konkret im Gegenüber zu Politiker/innen und Wissenschaftler/innen und … Grundsätzlicher im Gegenüber zum Lauf der Welt und Lauf meines Lebens – christlich: Es geht um das Gottvertrauen. Dieses schliesst weder Zweifel noch kritische Rückfragen aus. Dennoch muss dann niemand verteufelt werden: nicht Politiker, nicht Bill Gates, nicht die Polizei – nicht die Welt.

S.F.
Beitragsbild: Wokandapix, Pixabay

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CORRECTIV

Mimikama

 

Kirche und Welt 10/2020

Der Artikel erscheint in Ausgabe 10/2020 von «Kirche und Welt», der Zeitschrift für Mitglieder und Freunde der Methodistenkirche in der Schweiz. Die gesamte Ausgabe als PDF können Sie hier herunterladen.