Provokative Erinnerungen zur Eröffnung des neuen Studienjahres
6. Oktober 2020
Mit einer Eröffnungsvorlesung startete die Theologische Hochschule in Reutlingen in das neue Studienjahr. Der Theologe, Dichter und Essayist Dr. Christian Lehnert verband persönliche Erinnerungen an Kirche in der DDR und theologisches Nachdenken über Gegenwartsfragen.
Am 5. Oktober startete die Theologische Hochschule in Reutlingen (D), die Ausbildungsstätte der Methodist/innen im deutschsprachigen Raum, ins Wintersemester. Die Vorlesungen sind wieder als Präsenzveranstaltungen vorgesehen. Endlich. Wie wertvoll der persönliche Kontakt zwischen Studierenden und Lehrenden ist, brachte das letzte Semester schmerzlich zu Bewusstsein. Coronabedingt waren alle Lehrveranstaltungen nur online durchgeführt worden. Die Situation bleibt fragil. Doch der Anfang ist gemacht.
Und was für ein Anfang! Zur Eröffnungsvorlesung war der Theologe und Schriftsteller Dr. Christian Lehnert gekommen. Der 30. Jahrestag der Vereinigung in Deutschland gab seinem Vortrag den Rahmen: «Wer wir sind. Erinnerungen an die Kirche in der DDR als Gegenwartsfragen.»
Erkenntnisgewinn aus persönlichen Erfahrungen
Er bewege sich, sagte Lehnert in seiner Einleitung, als Dichter und Essayist an den Rändern, dort wo Sprache auszufranzen beginne. Einen «Erkenntnisgewinn» versprach er seinen Zuhörer/innen – «und sei es im Modus der Verstörung». Lehnert verband in seinem Vortrag persönliche Erfahrungen an die DDR und die Kirche in der DDR mit theologischer Reflexion. Grundsatzfragen brachen auf. Tragweite und Bedeutung kirchlichen Handelns und zentraler Themen christlichen Glaubens wurden erkennbar. Überraschend. Herausfordernd. Unerwartet. Aktuell.
Die verborgene Kirche
Im ersten Teil seines Vortrags schilderte Lehnert, wie er in der marxistischen Ideologie und im «realexistierenden Sozialismus» einer darin verborgenen «Kirche» und religiösen Themen begegnete. «Die Wirklichkeit war hier eine Liturgie, ein subtiler, feingliedriger und unentrinnbarer Kult vor dem Altar der Partei, der Vorhut der Vollendung.» Diese religiöse Überformung sei nicht allein im «realexistierenden Sozialismus» zu finden gewesen. Parallelen dazu fänden sich auch in einer liberalen und neoliberalen Fortschrittgläubigkeit oder in der Entgrenzung naturwissenschaftlicher Deutungsmuster.
Kirche als Ersatzöffentlichkeit
Demgegenüber habe er – wie viele andere in der DDR – in der Kirche einen anderen Sprachraum entdeckt. Hier hätten die Worte plötzlich «eine ganz ungewöhnliche Bedeutung» erhalten. Frieden, Wahrheit – und «das Rätselwort ‹Gott›». Allein schon diese Tatsache sei politisch gewesen, weil sie eine andere Möglichkeit der Wirklichkeit zeigte. «Unter den Gewölben Dresdner Kirchen erschien die Welt für mich verwandelt, waren die zwar gleichen Fakten der Welt doch anders sortiert.» Hier sei eine «Ersatzöffentlichkeit» entstanden. Die Kirche «war ein Container experimentellen Denkens».
Der Anfang eines ungewissen Weges
Doch was ist von diesen Erfahrungen geblieben? – Im letzten Teil seines Vortrags brachte Lehnert diese Erfahrungen mit den Entwicklungen nach «der Wende» in Zusammenhang. «Kirche in der DDR, sie war widerständig nicht, weil Ideologie auf Ideologie traf, sondern weil die Kirche das Konzept der Ideologie, und letztlich auch das Konzept der Partei, des Vereins unterwanderte. Das hat mein Kirchenverständnis geprägt», sagte Lehnert. Im Vordergund sei nicht die Institution gestanden oder eine Beheimatung in Gemeinden, sondern die Antwort auf einen Ruf. «Und diese Antwort konnte die eigenen Lebenskonzepte zerstören, war der Anfang eines ganz ungewissen Weges. Das habe ich an mir selbst erlebt.»
Wer sind wir?
Die deutlich wahrnehmbaren Zerfallserscheinungen der Kirche in der Gegenwart versteht Lehnert vor diesem Hintergrund als heilsam. «Erlöst wird ein fragliches Gefäss von seiner Form.» – «Auf die Frage: ‹Wer sind wir?› haben Christen keine Antwort. Und das ist ihr Glück.» Die Wahrheit der Kirche liege nicht in einer bestimmten institutionellen Gestalt, «sondern in einer unsichtbaren, unbenannten Existenzform», die ein starker, wirksamer Sog sei, ein Wehen in eine andere Welt.