
Antisemitismus: Das «unheimliche Grundrauschen»
1. Mai 2021
60 Personen aus Deutschland und der Schweiz nahmen am 24. April am Studientag Antisemitismus teil. Aufgrund der aktuellen Lage wurde der Anlass online durchgeführt.
Antisemitismus ist kein Phänomen, das auf rechten oder linken Extremismus oder auf Verschwörungsanfällige beschränkt ist. Es gibt ein «antisemitisches Grundrauschen» in der Gesellschaft. – Was aber ist genau Antisemitismus, wo begegnet er im Alltag und was lässt sich dagegen tun? Zu diesen Fragen gab es beim Studientag der Theologischen Hochschule Reutlingen, des Bildungswerks und des Kinder- und Jugendwerks der Methodistenkirche in Deutschland am 24. April Vorträge, Workshops und eine Podiumsdiskussion.
Anfänge im Neuen Testament
Jochen Maurer, Pfarrer für das Gespräch zwischen Christen und Juden von der Württembergischen Landeskirche, erläuterte in seinem Vortrag, was unter Antisemitismus zu verstehen ist. Der Begriff vom Ende des 19. Jahrhunderts stehe von Anfang an für Judenfeindlichkeit. Fast 2000 Jahre lang habe sich diese als «Antijudaismus» geäussert, als eine aus christlicher Motivation begründeten Feindschaft gegenüber Juden. Dieser Antijudaismus, der auch im Neuen Testament zu finden ist, sei zur Basis eines modernen, säkularen Antisemitismus geworden. Seit dem 19. Jahrhundert werde diese Judenfeindschaft nationalistisch und rassistisch begründet.
Positives Selbstbild
Zwei jüdische Studentinnen gaben anschliessend «Einblicke in Jüdisches Leben in Deutschland heute». Hannah Veiler, Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Württemberg und neuerdings deren Vizepräsidentin auf Bundesebene, und Ruth Bostedt, Vizepräsidentin des Bundes Jüdischer Studierender Baden. Den beiden Studentinnen ging es darum, dem oft allein durch die Shoa geprägten düsteren Bild ein positives Selbstbild entgegenzusetzen. Die junge Generation beteilige sich aktiv an der Gegenwartsgesellschaft. «Unsere Koffer sind ausgepackt, wir fühlen uns deutsch oder europäisch», sagten sie.
Oft kleingeredet
Sybille Hoffmann berichtete in ihrem Vortrag «Alltags-Antisemitismus heute: Selbstreflexion und Handlungsimpulse», wie in Schulen das «Nie wieder» pädagogisch und präventiv reflektiert wird. Dabei komme es durchaus vor, dass Alltagsantisemitismus auch von Pädagog/innen kleingeredet oder zu etwas erklärt werde, was «damals» und «durch Andere» passierte. Hoffmann ist als Lehrerin tätig im Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung sowie an der Landeszentrale für politische Bildung und sitzt im Beraterkreis des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung.
Austausch in Workshops
In drei Workshops setzten sich die Teilnehmer/innen anschliessend weiter mit der Thematik auseinander. Dabei ging es unter anderem um die strittige Unterscheidung von Israelkritik und Antisemitismus oder um die Frage, wie der Antisemitismus während Jahrhunderten die Bibelauslegung geprägt hat.
Ulrike Voigt / S.F.
Beitragsbild: Die Referent:innen: Pfarrer Jochen Maurer (o.m.), Sybille Hoffmann (m.m.), Hanna Veiler (o.r.), Ruth Bostedt (m.l.), Josef Herbasch (u.l.), Jörg Barthel (m.r.)
Die Moderatoren: Stefan Herb (u.r.), Christof Voigt (o.l.)
(Screenshot: Wilfried Röcker)
Ausführlicher Bericht auf der Website der Theologischen Hochschule
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Antisemitismusberichte Schweiz und Österreich
Der in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) durch die Stiftung Gegen Rasissmus und Anitsemitismus (GRA) publizierte Antisemitismusbericht für die Deutschschweiz weist für 2020 532 antisemitische Vorfälle aus. Die Zahl der Fälle habe nicht zugenommen. Besorgniserregend sei allerdings die starke Zunahme antisemitischer Verschwörungstheorien, schreibt die GRA auf ihrer Website. Diese Theorien würden durch Messengerdienste verbreitet und erreichten so zunehmend auch die Mitte der Gesellschaft.
Die Website «Stop Antisemitismus» will diesem Trend entgegenhalten und für das Thema sensibilisieren.
Im April veröffentlichte die Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ihren Jahresbericht für 2020. Mit 585 Meldungen verzeichnet der Bericht einen traurigen neuen Höchststand an antisemitischen Vorfällen. Vor allem im November und Dezember 2020 ist ein sprunghafter Anstieg festzustellen. Dafür benennt der Bericht zwei Gründe. Zum einen sei im November der Online-Auftritt der Antisemitismus-Meldestelle aufgeschaltet worden und ebenso die Social Media-Präsenzen auf Twitter und Facebook. Andererseits hätten die zu diesem Zeitpunkt stärker werdenden Proteste gegen die Corona-Massnahmen «zu einem markanten Anstieg der Anzahl einschlägiger Vorfälle geführt».
Kampagne gegen Judenfeindschaft in Kirche und Gesellschaft
Im Zusammenhang mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2019 in Dortmund war die Aktion «Jedes wir beginnt mit mir!» lanciert worden. Verschiedenen Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Wissenschaft, Politik und Kirche stehen mit ihrem Gesicht ein gegen Antisemitismus. Auf einer Website ist es möglich, ein Bild von sich in eine digitale Postkarte einzufügen, um so gemeinsam – neben den abgebildeten Prominenten – gegen Antisemitismus einzustehen. Die so geneierte Karte soll an Freundeskreise geschickt oder unter dem Hashtag #JedesWir in den sozialen Netzwerken geteilt werden.