
Professor Elsner hält Antrittsvorlesung in Reutlingen
29. April 2022
Dr. Lothar Elsner ist Inhaber des Lehrstuhls für Diakoniewissenschaften an der Theologischen Hochschule Reutlingen (D). Er hat den neuen Studiengang «Soziale Arbeit und Diakonie» mit entwickelt. Bei seiner Antrittsvorlesung am vergangenen Montag entfaltete er, wie soziale Arbeit und Diakonie sich gegenseitig ergänzen.
«Reicht soziale Arbeit allein, oder brauchen wir auch noch Diakonie», fragte Lothar Elsner zu Beginn seiner Antrittsvorlesung. Eine säkulare Gesellschaft wie die scheine weder die kirchliche Vorgeschichte noch die spirituelle Motivation zu sozialem Handeln zu benötigen. «Gibt es ein Tauziehen um die Deutungs- und Handlungshoheit», fragte Elsner weiter, «und hat die Diakonie dabei schlechtere Karten als die professionalisierte soziale Arbeit?» Anhand von fünf Überlegungen legte Elsner in seiner Vorlesung dar, dass die Verhältnisbestimmung wesentlich differenzierter ausfallen müsse.
Mehr als «Nächstenliebe»
Erstens war die Diakonie seit ihren biblischen Anfängen stets mehr als nur individuelle Nächstenliebe. Sie sei «solidarische Gesellschaft ausgerichtet». Dieser Fokus sei die historische und letztlich auch die inhaltliche Grundlage staatlicher Sozialer Arbeit bis heute. Die Dimension des Religiösen sei auch in der Gegenwart für viele Schaffende und Empfangende wesentlich und durch kein soziales Substitut zu ersetzen.
Bilder der Hoffnung
Zweitens bedürfe die Diakonie der rationalen Kritik, wie sie die wissenschaftlich fundierte Sozialarbeit liefert, um die Gefahr einer religiösen Ideologisierung zu umgehen. Gleichzeitig brauche auch der moderne Wohlfahrtsstaat neben einer vernunftmässigen Begründung «Bilder der Hoffnung und des Vertrauens», um die soziale Ordnung der Gesellschaft inhaltlich zu beschreiben und sie zu realisieren. Gerade in sozialer Hinsicht seien weder der Mensch noch das menschliche Gemeinwesen ausschliesslich rational bedingt, sondern zutiefst von Werten und Visionen einer möglichen Zukunft geprägt, wie sie etwa die Spiritualität der Diakonie zur Sprache bringt.
Vielfalt der Beziehungen
Drittens brauche soziale Arbeit – genau wie auch die Diakonie – eine Sprachfähigkeit zur Beschreibung des Verhältnisses von geleisteter und empfangener Hilfe. Elsner führte am Beispiel von Untersuchungen in Seniorenzentren aus, wie schwierig nur schon die Bezeichnung der Akteure ist: Sind es Helfer und Empfängerinnen? Expertinnen und Klienten? Kunden und Dienstleisterinnen? Die Diakonie mit ihren Wurzeln in der christlichen Nächstenliebe verfüge über ein bedeutend reichhaltigeres Repertoire nicht nur an Begriffen, sondern auch an Vorstellungen für die Beziehungen, die in der Arbeit erreicht werden sollen. Elsner fragte, ob wir heute einen ähnlich familiären Begriff wie «Geschwister» finden, weil dieser impliziert, dass Menschen durch mehr verbunden sind als lediglich durch Bedürfnisse, und dass es Hilfe gibt, die weder verrechnet werden kann noch verrechnet werden will.
Bis heute prägend
Viertens, und mit ähnlichem Fokus, betonte Elsner, dass kirchliche Schwesternschaft «prägend waren für das Berufsbild, in aller Ambivalenz». Die Hingabe als typisch weibliche Rolle und die Selbstaufgabe bis zum Ende der Kräfte stellten laut Elsner Bereiche dar, die dringend einer professionellen (Selbst)kritik bedürfen. Trotzdem seien die Vorstellung von «existentieller Kommunikation, Hingabe und ehrenamtlicher Selbsthilfe und Vision» keineswegs als erledigt zu betrachten, weil gerade sie auch heute noch im zwischenmenschlichen Miteinander eine wichtige Rolle spielen.
Hin zu einer Kultur der Solidarität
Und fünftens schliesslich wisse sich die Diakonie in der Versöhnung Gottes und der daraus entspringenden Hoffnung verwurzelt. Es sei darum gerade ihre Aufgabe, diese Wurzeln konkret zu leben und die Gesellschaft durch eine entsprechend geprägte Soziale Arbeit von einer «Kultur der Herrschaft» zu einer «Kultur der Solidarität» weiterzuentwickeln. Das Stichwort der «dienenden Leitung» sei darum aktueller denn je, so das Schlusswort von Elsner.