
Wieso Menschen Freikirchen verlassen
4. Mai 2022
In den Landeskirchen sind Kirchenaustritte schon längst «kalter Kaffee». Säkularisierung, Missbrauchsfälle und ein allgemeines Unverständnis gegenüber der kirchlichen Glaubenssprache sind bekannte Gründe. Nun erreicht das Thema «Kirchenausstieg» auch die Freikirchen. Sarah Strehler ist in Kontakt mit Aussteiger:innen.
Eine kürzlich erschienene 🔗Studie der Universität Lausanne von Jörg Stolz und Jeremy Senn zeigt auf, dass nicht Erwachsene den Glauben verlieren. Die Gesellschaft wird vielmehr deshalb säkularer, weil die ältere, gläubige Generation durch eine neue, «weniger gläubige» ersetzt wird. Der Transfer des Glaubens an die nächste Generation funktioniert nicht genug und so ist, «jede Generation etwas weniger religiös als die Vorherige».
«Ich habe Menschen einfach gern»
Dieses Thema des «Kirchenausstiegs» ist nun auch stärker in den Freikirchen in den Fokus gerückt. In diesem Kontext engagiert sich Sarah Strehler. Die Mitarbeiterin bei der 🔗GemeindeEntwicklung der Methodist:innen in der Schweiz ist u.a. im 🔗Netzwerk des Vereins «fundamental frei» aktiv für Menschen, die ihren Fundamentalismus aufarbeiten und ablegen möchten: «Ich helfe da, weil ich Menschen einfach gern habe und denke, dass Gott gebrochene Herzen heilen möchte.»
Sie stellt fest, dass sich in der Gesellschaft vieles wandelt, so auch die Bedürfnisse zu Transzendenz und Spiritualität: «Es gibt kaum mehr homogene Bedürfnisse, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichsten Lebensrealitäten.» Diese kirchlich auf- und ernstzunehmen sei schwer. «Im Netzwerk begegnen mir dann natürlich auch ganz konkrete Themen wie geistiger und spiritueller Missbrauch und religiöse Traumata, ausgelöst zum Beispiel durch rigide Sexualvorschriften, Überbetonung von Themen wie Endzeit, Hölle und Sünde oder auch Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Glaube.»
Glaubensentwicklung zulassen
Wenn Menschen Glaube und Gemeinden verlassen, gehen oft auch langjährige Kontakte und Beziehungen auseinander. Die Gemeinschaft ist jedoch genau das, was die Ausgestiegenen auch Jahre später noch vermissen. Dass man – trotz Glaubensentwicklung oder einer Emanzipierung des Glaubens – weiterhin gemeinsam unterwegs sein kann, davon ist Sarah überzeugt. «Ich glaube, dass die meisten Ausgestiegenen weiterhin gläubig und in der Kirche geblieben wären, wenn sie wirklich mündig behandelt und sorgfältig begleitet worden wären. Viele von ihnen sind Suchende und weiterhin Glaubende, aber ihre Spiritualität trägt vielleicht eine andere Farbe.» Sarah ist der Meinung, dass man Menschen, die sich bewusst vom Christentum abgewandt haben, weiterhin begleiten sollte. «Ich finde es wichtig, dass es um echtes Interesse am Menschen gehen sollte und nicht ‹nur› um Seelen-Rettung….»
«Wir brauchen einen Hafen»
Tatsache ist, dass es immer mehr gläubige Menschen gibt, die sich nicht mehr einer Gemeinde zugehörig fühlen. Sie besuchen vielleicht noch verschiedene Gottesdienste, sind mal da und dort für eine Weile «geistlich» zu Hause oder nutzen zu Hause verschiedenen Livestream-Gottesdienste, die in den letzten Jahren entstanden sind. Dies sieht Sarah etwas kritisch: «Generell finde ich nicht gut, wenn der Mensch allein unterwegs ist. Wir spiegeln uns im Du, nur im Du werde ich zum ich. Sicher haben sich Gemeinschaftsformen stark verändert. Aber wir alle brauchen einen Hafen, einen Ort zum Auftanken, wie die Schwalben, die jedes Jahr tausende Kilometer zu ihrem Geburtsort zurückkehren. Und diese Häfen können Kirchen, ein Hauskreis, ein Verein – oder sogar ein digitales Netzwerk sein.»
Potenzial im Methodismus
Sarah, die sich seit eineinhalb Jahren in der Methodistenkirche in der Schweiz engagiert, ist der Meinung, dass der Methodismus ein solcher geistlicher Hafen für Aussteiger:innen sein kann: «Im Methodismus findet sich ganz viel dieser befreienden, menschenbejahenden, das Leben ernst nehmenden Theologie, die mich überzeugt sein lässt von Gottes Realität.» Dennoch erlebe sie auch innerhalb der Methodistenkirche Ungereimtheiten, Unsicherheiten, auch Ängste – gerade auch bezüglich ihrer Arbeit und ihrer Person.»Das kann ich verstehen. Vielleicht fällt es mir leichter, mich in diesen Spannungen zu bewegen, weil ich in meinem eigenen Leben gesehen habe, dass ich gar nicht so viel aus eigener Kraft tun kann. Gottes Geist weht, wo Gott will.» Von der Methodistenkirche wünscht sie sich, dass sie mutig sein kann, auch mal etwas wagt und darauf vertraut, dass Auferstehung zwar mit dem Sterben beginnt – daraus aber ein Same erwacht, der die ganze Welt zum Guten revolutioniert.
Liberale Freikirche hätte Chancen
Der Theologe Thomas Schlag hat sich in einem 🔗Gespräch mit Jörg Stolz in der NZZ über das Schwinden der Religionen unterhalten und dabei wieder etwas Hoffnung zurückgebracht: «Religion ist bei vielen Menschen nicht verschwunden, sondern bloss verschüttet. Bei Jugendlichen braucht es ‹nur› einen Trigger, und dann legen sie los mit religiösen Fragen.» Und Jörg Stolz meint, dass sich mit dem aktuellen Wandel möglicherweise auch ein Feld für explizit liberale Freikirchen auftue…