«Wir werden und wollen uns nicht zurückziehen»
7. Oktober 2022
Am 4. September 2022 lehnten 62% der Stimmberechtigten in Chile den Entwurf einer neuen Verfassung ab. Jorge Merino Riffo, Bischof der Methodistenkirche in Chile, nimmt dazu Stellung. Er erklärt, warum ihm eine neue Verfassung wichtig ist, was es dazu braucht und wie er die Aufgabe der Kirche sieht.
Mit ihrem deutlichen «Nein» überraschten die Chilen:innen sich selbst. Viele Prognosen rechneten zwar mit einem äusserst knappen Resultat. Trotzdem erstaunt die deutliche Ablehnung, weil zwei Jahre zuvor 80% für den Prozess der Erarbeitung einer neuen Konstitution gestimmt hatten. Chile bleibt – vorerst – bei der alten Konstitution, die auf die Zeiten der Pinochet-Diktatur (1973-1990) zurückgeht. Das Land steht vor einer neuen Diskussion darüber, wie es weitergehen soll.
Grundrechte stärken
Mit der neuen Verfassung sollten unter anderem die Grundrechte auf Arbeit, Gesundheitsversorgung, Bildung, eine sichere Rente und Trinkwasser gestärkt werden. Der Entwurf plädierte für einen plurinationalen Staat, bei dem insbesondere die Rechte der indigenen Völker anerkannt werden sollten. Jorge Merino Riffo schreibt: «Wir haben das Resultat der Abstimmung mit echter Besorgnis entgegengenommen. Viele Methodist:innen haben den Entwurf begrüsst und darauf gehofft. Er sollte die Grundlage für das Wohlergehen aller bieten und besonders diejenigen in den Blick nehmen, die bisher in unserer Gesellschaft diskriminiert wurden und am verletzlichsten sind.»
Ein neues Modell
Der neue Verfassungsentwurf habe eine Basis für den Schutz der unantastbaren Menschenrechte aller aufbauen wollen, so der Bischof weiter. Der Entwurf habe den Grundstein für ein neues Staatsmodell schaffen wollen. Die Demokratie wäre gestärkt worden und die neue Verfassung hätte eine Grundlage gelegt, um die tief verwurzelten Ungleichheiten zu überwinden. Jorge Merino Riffo meint: «Die Grundausrichtung des Entwurfs gleicht sehr dem Gesellschaftsmodell, für das wir uns seit mehr als einem Jahrhundert mit unserer Mission einsetzen.»
Sich nicht zurückziehen
Jorge Merino Riffo lässt sich von der Ablehnung des Verfassungsentwurfs nicht entmutigen. Denn dieser könne als Grundlage für den weiteren Prozess gesehen werden. Nun müssten weiter Vorschläge entwickelt werden, die Chile zu einer gerechteren, freieren und gleichberechtigteren Gesellschaft führen sollten. Diese sozialen Forderungen seien nach den sozialen Unruhen im Herbst 2019 von einem grossen Teil der chilenischen Bevölkerung gekommen. Für den weiteren Prozess müssten die verschiedenen politischen Koalitionen zusammenarbeiten, so der Bischof. «Die Methodistenkirche sieht mit Wohlwollen, dass sich die aktuelle Regierung den sozialen Forderungen verpflichtet fühlt. Wir wollen und werden uns nicht aus diesen Prozessen zurückziehen und diese aufmerksam verfolgen.»
Den Ursachen nachgehen
Es gehe jetzt darum, innezuhalten und über die tieferen Ursachen der Ablehnung nachzudenken, ist der Bischof überzeugt. Welche Haltungen stecken hinter der Ablehnung? Was bringt diese hervor und was erhält sie am Leben? «Wir glauben, dass es nicht nur um eine neue Verfassung geht, sondern um einen notwendigen Wiederaufbau. Und es geht nicht nur um den Verfassungsprozess, sondern auch darum, wie wir den inneren und latenten sozialen Widersprüchen in unserm Land begegnen. Bei uns erinnern Angst und Fehlinformationen noch immer an die schmerzhaften Momente unserer Geschichte, die mit einer grausamen Diktatur verbunden sind.» Es gibt in Chile eine nicht zu vernachlässigende Gruppe von Menschen, die den Stil von Pinochet auch heute noch befürwortet.
Reich Gottes schaffen
In den Gemeinden und Projekten der Methodistenkirche engagieren sich Menschen für die Würde von Benachteiligten. Sie bieten Migrant:innen Schutz und Rechtsberatung, schaffen Bildungsmöglichkeiten für Kinder oder setzen sich dafür ein, dass die Rechte des indigenen Mapuche-Volkes gestärkt werden. Bischof Jorge Merino Riffo ist überzeugt: «Das Beste von allem ist, dass wir weiterhin die Hoffnung auf eine neue Welt ankündigen und uns für das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit einsetzen. Wir haben die grosse Hoffnung, dass wir, wenn nicht jetzt, so doch in naher Zukunft eine neue, soziale Ausrichtung erreichen werden.»
Nicole Gutknecht, Connexio hope / Connexio develop
Beitragsbild: Methodist:innen in Chile demonstrieren für eine neue Verfassung und stehen ein für Gesundheit, ein würdiges Leben, Frieden, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. (Bild: zVg / Connexio)
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