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Bild: Milan Weller

«Wo Leute ihre Religion praktizieren, führt das zu freiwilligem Engagement.»

5. Dezember 2022

Den Zusammenhang von Sozialkapital und Religion in der Schweiz hat Milan Weller in seiner Masterarbeit untersucht. Sein Ergebnis zeigt, inwiefern Kirche einen wichtigen und messbaren gesellschaftlichen Beitrag leistet.

Wie bist du darauf gekommen, in Rahmen deiner 🔗Masterarbeit den Zusammenhang von Sozialkapital und Religion zu untersuchen?

Ich mache den Master in Religion, Wirtschaft, Politik. Hier geht es darum, ein Thema interdisziplinär aufzugreifen. Aus der wirtschaftlichen Forschung war mir das Konzept des Sozialkapitals vertraut. Bei Forschungsarbeiten im Bereich von Zivilgesellschaft und Religion wurde mir klar, dass man das Konzept des Sozialkapitals auch mit Religiosität verknüpfen könnte.

Was muss ich mir unter «Sozialkapital» vorstellen?

Ganz grundlegend geht es um die Vorteile, die sich aus sozialen Beziehungen ergeben. Die sozialen Beziehungen, das Netzwerk, das man sich schafft, das Vertrauen, das dabei entsteht – das alles hat einen bestimmten Wert. Im Alltag stellt Sozialkapital für Individuen eine Ressource (Vitamin B) dar, indem man bei der Arbeitssuche beispielsweise jemanden kennt und von einer Vermittlung oder einem Vertrauensvorsprung profitiert. Durch die Vertrauensbildung werden zum Beispiel Transaktionskosten reduziert, was auch gut für die Gesellschaft allgemein ist. Es herrscht weniger Misstrauen und kann effizienter gearbeitet werden.

Wie lässt sich so etwas messen oder erheben?

Es gibt sozialwissenschaftliche Zugänge, die Hilfsmittel bereitstellen, um das zu erheben. Ein wichtiger Indikator ist meist das freiwillige Engagement: Wenn sich jemand freiwillig engagiert, dann ist das ein gesellschaftlicher Wert. Dieses Engagement kann man erheben und so messen. Soziales Vertrauen stellt ebenfalls einen Wert dar. Dabei entsteht eine Harmonie, die Sozialkapital schafft. Transaktionskosten werden gesenkt.

Machen wir ein Beispiel: Leute sitzen in der Kirche beim Kirchenkaffee zusammen. Eine ältere Frau ist dabei, die in den nächsten Tagen umziehen muss. Und dann hat es da zum Beispiel jemanden, der sagt: «Ich helfe dir dann beim Umziehen.» – Hier entsteht also durch das freiwillige Engagement ein Wert. Der entsteht im Netzwerk, in dem sich solches Gelegenheitspotenzial ansammelt.

Eine These ist nun, dass in der Kirche ein besonders förderlicher Rahmen geschaffen wird, der zum freiwilligen Engagement anregt. Untersuchen lässt sich das durch die Frage, ob Leute, die in die Kirche gehen, sich auch überdurchschnittlich freiwillig engagieren.

Und wie hast du nun diesen Zusammenhang untersucht?

Bei der Fragestellung gibt es zwei Variablen. Die religiösen Werte (Zugehörigkeit und religiöse Praxis) sind sogenannt abhängige Variablen. Die unabhängige Variable ist das freiwillige Engagement. Nun lässt sich aus den Daten erheben, ob das korreliert: Ist eine Person freiwillig engagiert? Gehört sie zugleich zu einer religiösen Gemeinschaft? Gehst sie regelmässig zu einer Kirche? – Ausserdem wurden die Daten noch abgeglichen mit andern Faktoren.

Gearbeitet habe ich mit den Daten aus dem 🔗«Freiwilligen-Monitor 2020», einer repräsentativen Befragung zur Freiwilligenarbeit in der Schweiz mit über 5000 Befragten. Der Vorteil ist, dass man so sehr repräsentative Schlüsse ziehen kann, weil es eine so grosse Stichprobe ist. Der Nachteil ist, dass ich einfach mit den Fragen und Antworten arbeiten musste, die vorhanden waren. Glücklicherweise waren aber zur Religion auch einige Fragen gestellt worden. Erhoben wurde die private Praxis – wie etwa das Gebet – und die öffentliche Praxis – etwa der Kirchgang.

Es zeigte sich: Allein die Tatsache, dass Leute Mitglied sind in einer religiösen Gemeinschaft, hat keinen Einfluss auf das freiwillige Engagement. Dass jemand also zur reformierten oder katholischen Kirche gehört, dass allein schafft noch kein Sozialkapital. Wo Leute ihre Religion hingegen praktizieren, führt das zu überdurchschnittlich viel freiwilligem Engagement. Dies jedoch häufig auch innerhalb der eigenen religiösen Gemeinschaft.

Dabei ist auch die Frage nach den Motiven interessant: Etwa 14% aller Engagierten gaben beispielsweise an, dies aus religiöser Überzeugung zu tun, was an sich ein religiöses Kapital darstellt.

Das Ergebnis ist also: In den Kirchen werden Gelegenheitsstrukturen und Dispositionen geschaffen, die positive externe Effekte für die Gesellschaft bilden und einen Wert haben. Dies ist hinsichtlich Debatten um Kirchensteuern oder um fairen Wettbewerb zu berücksichtigen.

Was bedeutet das, was du herausgefunden hast, für die Arbeit der Kirche? Wo müssten Schwerpunkte gelegt werden?

Da Religionszugehörigkeit alleine nicht ausreicht, um die Opportunitätsstrukturen zu schaffen, damit Sozialkapital entsteht, geht es darum, Mitglieder anzuregen, dass sie ihren Glauben praktizieren.

Ausserdem zeigte sich, dass eine starke Verbundenheit mit der Kirche damit korreliert, dass sich die Leute auch stärker in der Kirche engagieren. Also könnte man daraus ableiten, die Leute stärker an die Kirche zu binden. Dann engagieren sie sich mehr freiwillig. Durch das freiwillige Engagement wird Vertrauen geschaffen, weil die Leute miteinander interagieren.

In der Arbeit wurde auch differenziert zwischen «Fremdvertrauen» gegenüber Personen, denen man zum ersten Mal begegnet, und «Nahbereichsvertrauen», gegenüber vertrauten oder befreundeten Personen. In der Gesellschaftstheorie gilt das Fremdvertrauen als Schlüssel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ist sehr förderlich für die Demokratie. Wenn Vertrauen nur innerhalb einer homogenen Gruppe existiert, besteht die Gefahr von extremistischen Vereinigungen, Verschwörungstheorien oder Sekten. Darum ist es wichtig, nicht nur die Beziehung gegen innen zu stärken. Es geht vielmehr genau darum, das Vertrauen in fremde Personen zu stärken, da dies die eigentliche Ressource für Demokratie darstellt.

Auch dazu habe ich eine Hypothese hergeleitet, weshalb die Kirche hierbei einen förderlichen Rahmen schafft. Dazu gehört der Anspruch, dass man einander auf Augenhöhe begegnet. Fremde Personen werden zudem sehr schnell als «nahe» wahrgenommen, weil sie zum Beispiel als «Glaubensgeschwister» gesehen, also familiär zugeordnet werden. Das ist zugleich sehr tief verankert mit einem transzendenten Bezug, der das möglich macht.

Die Analyse der Religionslandschaft Schweiz zeigt zudem, dass der Trend zur Säkularisierung fortschreitet und 🔗mit jeder Generation die Religiosität abnimmt. Freikirchen sind davon nicht so stark betroffen. Dort hat sich eher ein religiöser Markt mit konstanter Nachfrage gebildet. Dabei herrscht ein Konkurrenzverhältnis zwischen den verschiedenen religiösen Akteuren. Spannend ist es hier für die Methodistenkirche zu entscheiden: Will man in diesen Konkurrenzkampf eintreten? Lässt man sich darauf ein, das Vertrauen gegen innen durch eine Absonderung gegen aussen zu stärken?

Generell geht es darum, dass die Kirche sich als Akteur bewusst wird: In welchem Feld bewegen wir uns – auch im Zusammenhang der Gesellschaft. Meine Arbeit belegt jedenfalls ganz deutlich: Die Kirche ist ganz klar ein Akteur der Zivilgesellschaft.

S.F.
(Foto: privat, zVg)

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Zur Person

🔗Milan Weller (24) ist Forschungsmitarbeiter und PhD Student an der Universität Luzern. Er ist Mitglied des 🔗Ausschusses für Kirche und Gesellschaft der Methodistenkirche in der Schweiz.

Masterarbeit

Der Springer-Verlag hat die Masterarbeit von Milan Weller in seine Reihe 🔗«BestMasters» aufgenommen. Mit einer Aufnahme in diese Reihe zeichnet der Verlag «die besten Masterarbeiten aus, die an renommierten Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz entstanden sind.»

Milan Wellers Arbeit «Sozialkapital und Religion – Eine Sekundäranalyse des Freiwilligen-Monitors Schweiz 2020» ist 🔗in Printform und als E-Book verfügbar.